Sonnenaufgang am Roen

Dienstag. 3 Uhr morgens. Du schläfst gemütlich in deinem Hotelzimmer. Der Wecker klingelt. Du freust dich. Moment mal? Du freust dich? Das liegt daran, dass heute kein normaler Dienstag und kein normaler Morgen ist. Heute ist der Tag, an dem du einen der schönsten Sonnenaufgänge sehen wirst, die dir Südtirol zu bieten hat.

Du raffst dich also um 3 Uhr aus dem Bett. Mit den Gedanken bereits am höchsten Punkt des Monte Roen. Die ersten Sonnenstrahlen scheinen dir bereits ins Gesicht. Das Gras, überzogen vom Morgenreif, leuchtet in dieser einen besonderen Farbe, die nur Frühaufsteher oder Spätschlafengeher kennen. Im Hintergrund kreist ein Adler. Im Vordergrund sind glückliche kleine Bäume. Was? Übertreib‘s mal nicht. Das ist so kitschig, man könnte meinen, man ist in einem Bob Ross Gemälde.

Nachdem dein Tagtraum (Morgentraum?) zu Ende ist und du bemerkst, dass du zu spät dran bist, schnappst du noch schnell deinen hoffentlich bereits am Vortag gepackten Fahrradrucksack, schlüpfst in dein MTB-Outfit und machst dich auf den Weg in den Hotelhof. Unten angekommen, erwarten dich ebenso verschlafene, aber auch ebenso vorfreudige Gesichter im Bikeoutfit. Der einzige, der anscheinend schon vor Energie strotzt, ist Armin. Mit einem verschmitzten Lachen fragt er dich: „Na, schon wach oder noch wach?“ Obwohl es noch zu früh (oder spät) für solch schlechte Witze ist, raffst du dich trotzdem zu einem Lächeln auf und Armin ist zufrieden. Nachdem die letzte Schlafmütze aus dem Bett gefallen ist, geht es los zum Traminerhof Bus. Eine Fahrt auf den Mendelpass steht an. Noch ein letzter Blick auf die noch grau-schwarze Bergkette, die du gleich zu bezwingen versuchst, und los geht’s. Am Anfang noch mit Small Talk begleitet, wird nach einigen Minuten Armin ein sehr einseitiges Gespräch am Steuer führen. Oben am Pass angekommen werdet ihr mit einem „Aufwachen, wir sind da!“ aus dem Halbschlaf gerissen.

Jetzt geht’s los. Aufs Rad rauf. Losfahren. Baum rammen. Mitgebrachtes Licht einschalten. Nochmal losfahren.

Während der Fahrt gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Die einen fahren dahin, wie ferngesteuerte Bikerzombies, die anderen bekommen einen morgendlichen Energieschub und man hört dauernd nur „sowas hab ich noch nie gemacht“ und „ich glaub wir sind zu spät dran, es wird schon hell“. Du konzentrierst dich aber auf dich und deinen Magen, weil gestern nach dem Abendessen in der Bar 62 aus ein, zwei Gin Tonic plötzlich ein, zwei, drei, vier, fünf geworden sind. Nach unzähligen Stunden; oder zwei, wer weiß das schon, kannst du den Gipfel sehen. Oder du glaubst ihn zu sehen. „Armin, ist das der Gipfel?“ „Jojo…“

Du steigst vom Rad, die letzten paar Schritte noch zu Fuß. Aber aufpassen, dass es wirklich nur ein paar Schritte bleiben. Denn vor dir geht es senkrecht nach unten bis nach Tramin. Wer noch nicht ganz sicher auf den Beinen ist, sollte lieber ein paar Meter zurück bleiben.

Diese Aussicht! Du kannst es nicht in Worte fassen. Auf jeden Fall kann es der Autor dieses Artikels nicht. Es ist genauso, und noch viel besser, als du es dir vor ein paar Stunden in deinem warmen Bett noch vorgestellt hast. Dein Blick schweift über Tramin weiter in die Ferne. Prominent am Hintergrund die Berge des Weltnaturerbe Dolomiten mit der einzigartigen Blätterbachschlucht. Gegenüber siehst du die Heimat des berühmten Bären Bruno, die Brentagruppe. Und falls das noch nicht genug ist, sind die Gletscher des Ortlermassives, mit dem höchsten Berg der Ostalpen, auch noch erkennbar. Praktisch ein 360°-Panorama, das du natürlich gleich mit deinem Smartphone fotografieren musst, nur um später ein verwackeltes verschwommenes Panoramabild zu bekommen, das auf ewig in deinem Archiv verweilen wird, nur weil es „nicht so wie vom Fotografen“ ist. Also lieber mit den Augen festhalten und die Aussicht mündlich überliefern.

Das einzige, was die Sache jetzt noch besser machen könnte, wäre eine heiße Tasse Kaffee. Die Chancen auf 2116m jetzt ein Café zu finden, dürften jedoch schwindend gering sein. „Wer will Kaffee?“, heißt es plötzlich. Was? Armin packt seinen Rucksack aus, gibt jedem eine Tasse und gießt jedem reichlich ein. Jetzt bist du baff.

Sonnenaufgang am Berg mit Freunden und solchen, die es noch werden könnten. Kaffee. Kann das noch besser werden? Natürlich! Denn der Grund warum du dich auf diesen Berg geschleppt, geschliffen, gehievt hast, ist von genau diesem Berg wieder runter zu fahren. Denn jetzt liegen fast 2000 Tiefenmeter Single Trail vor dir. Und das so früh morgens, dass man höchstens einem Reh begegnet und nicht Onkel Franz, der sich auf einem Trail verlaufen hat.

Nach dieser Abfahrt, die Technik, Konzentration, Ausdauer und Willen fordert, bist du erstmal geschafft. Dann ein Blick auf die Uhr. Sonnenaufgangs-MTB-Tour und noch nicht mal mittags? Das kann nur ein super Urlaubstag werden. Am Liebsten würdest du dich gleich aufs Rad schwingen und die nächste Tour fahren. Aber da du Urlauber und kein Leistungssportler bist, wirst du den Rest des Tages wahrscheinlich zwischen Bar und Schwimmbad pendeln.

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